Jazz in Kirchen
Jazz hat solch eine Vielfalt von Musikstilen hervorgebracht, welche Menschen unterschiedlichster Kulturen, Generationen und Milieus zu begeistern vermag. Ob Dixieland, Blues, Gospel, Swing, Cool Jazz, Bebop, Fusion, Latin-Jazz oder Free Jazz, sie sind längst Klangalltag in Klubs, Bars und Konzertsälen, in Musikschulen, Proberäumen, ja, Wohnzimmern rund um den Globus geworden. das Verständnis des Jazz längst nicht mehr traditionell nordamerikanisch. Die Folklore Osteuropas, mediterrane und nordafrikanische Musik, tibetanische und gregorianische Gesänge, indische Klassik, Reggae, elektroakustische Musik, Punk, Chanson, Tango und Klezmer etc. dienen dem Jazz als Inspirationsquellen:
eine improvisierte, integrative und transkulturelle Weltmusik des 21. Jahrhunderts.
Jazz in der Kirche – ein Fremdkörper? Im Gegenteil. Jazz ist genuin Ausdruck von Spiritualität und Improvisation ist ein Verhalten mit transzendenter Tendenz. Wer improvisiert geht über sich hinaus, über das Sichtbare, auch über das Hörbare und rührt an eine Ahnung, was das Leben sein könnte. Jazz hat zudem seine Wurzeln in den Spirituals und Gospels der ersten protestantischen Kirchen mit afroamerikanischer Prägung. Und mit diesem „Spirit“ der Anrede Gottes in Lob und Klage, mit dieser Glaubens- und Seelentiefe, ist der Jazz, nicht zuletzt in Form des Blues, hinaus in die Welt getragen worden. Nicht wenige Bandleader und Arrangeure waren zugleich Kirchenmusiker, darunter auch der bekannte Blues- Musiker und Vater der modernen Gospelmusik Thomas Dorsey und Duke Ellington, einer der bedeutendsten und wegweisenden Komponisten des frühen Jazz. Einige der einflussreichsten Aufnahmen wie die Sacred Concerts von Ellington, ebenso A Love Supreme von John Coltrane sind weltweite Bestseller mit spirituellem, ja, sogar liturgischem Hintergrund. Auch im zeitgenössischen Jazz finden sich etliche renommierte Künstler, die vieles in ihrer Musik als dezidierten Ausdruck christlicher Spiritualität begreifen – u. a. Ike Sturm, Take Six, Janne Mark, Gregory Porter und Robert Glasper. Wenn Jazz in der Kirche erklingt, ist es also wie eine Rückkehr zu seinem Ursprung, wie eine Wiederbesinnung auf seine spirituelle Natur.
Diese ist durch drei Merkmale besonders gekennzeichnet:
- die Freiheit des Ausdrucks
- die Freiheit der Improvisation
- die Freiheit der Kommunikation des Moments
Aus diesen drei künstlerischen Merkmalen ergibt sich ein viertes, daraus resultierendes theologisches Merkmal, die Freiheit der Individualität coram Deo. Der Künstler offenbart sich in seiner geschöpflichen und kreativen momentanen Einzigartigkeit vor Gott. Und der Zuhörer hat an dieser Offenbarung teil.
Oft haben Musiker*innen und Hörer*innen diesen befreienden Spirit gespürt und beschrieben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Freiheit des Jazz dem Wesen des protestantischen Christentums so sehr entspricht. Weltweit gibt es seit den 1950er Jahren daher auch evangelische Kirchen, die mit Jazz als Gottesdienstliche Musik arbeiten.
Dr. Martin Luther King, Jr. schreibt in seinem Grußwort für das erste Berliner Jazzfest 1964:
“Jazz speaks for life. The Blues tell the story of life’s difficulties, and if you think for a moment, you will realize that they take the hardest realities of life and put them into music, only to come out with some new hope or sense of triumph. This is triumphant music. (...) And now, Jazz is exported to the world. For in the particular struggle of the Negro in America there is something akin to the universal struggle of modern man. Everybody has the Blues. Everybody longs for meaning. Everybody needs to love and be loved. Everybody needs to clap hands and be happy. Everybody longs for faith.”
Bedarf
Laut Studien des Deutschen Musikinformationszentrums gibt es fast ebenso viel Menschen in Deutschland, die Jazz als bevorzugte Musikform hören wie Klassische Musik, 27,4 % gegenüber 33,6%; Blues, Spirituals und Gospels liegen bei 32,4 %.5 Die Studie belegt ferner, dass die Jazzhörer*innen im Vergleich zu Fans Klassischer Musik gleichmäßiger über alle Generationen vertreten sind. Dies bestätigen auch die erfolgreiche Nachwuchsarbeit und die Generationen übergreifende Hörerschaft bei Jazzfestivals. Die Sinusstudie von 2012/15 differenziert zudem die Milieus der wichtigsten Hörergruppen aus. Dies unterstützt Praxiserfahrungen von jazzgottesdienstlicher Arbeit, dass sich ein überwiegend neues kirchliches Publikum jenseits der „Traditionellen“ und der „Bürgerlichen Mitte“ angesprochen fühlt,
und dabei keine Konkurrenz zu klassischen Formen der Kirchenmusik oder zu Pop/Rock/Musik-Gottesdiensten entstehen. Daher ist auch eine kirchliche Arbeit mit Jazz weder mit kultureller Kinder- und Jugendarbeit noch mit Popularmusikalischer Arbeit im Worship-, Sacropop- und Gospel-Bereich gleichzusetzen.
In vielen Städten über 100.000 Einwohner:innen sind die oben genannten Milieus in potenter Größe vertreten, so dass auch von einem an einer JazzKirche interessierten Publikum in einer relevanten Zahl ausgegangen werden kann.